Japan: Expansionskurs zum militärischen Staat

Japan: Expansionskurs zum militärischen Staat
Japan: Expansionskurs zum militärischen Staat
 
Soziale Spannungen
 
Japan gehörte einerseits zu den Siegermächten des Ersten Weltkriegs. Andererseits fühlte es sich nicht als gleichberechtigte Groß-macht akzeptiert. Es sah sich in seinen imperialistischen Ambitionen durch die etablierten Groß- und Weltmächte, insbesondere durch die USA, gebremst. Das weit reichende japanische Ziel, die junge chinesische Republik zu einem Satellitenstaat zu machen, schlug fehl. Für die nationalistischen Kreise in Japan bedeutete die Washingtoner Konferenz 1921/22 eine ähnliche Knebelung wie Versailles für Deutschland. Als besonders demütigend wurde empfunden, dass Kiautschou, das Japan 1914 von Deutschland übernommen hatte, an China zurückfiel. Dass Japan wirtschaftliche Sonderrechte in der Mandschurei behaupten konnte, war nur ein schwacher Trost.
 
Die außenpolitische Frustration fiel mit verschiedenen innergesellschaftlichen Spannungsmomenten und Konfliktlagen zusammen. An der Spitze stand die weit verbreitete Angst vor zu starken westlichen Einflüssen. Die wirtschaftliche Modernisierung des Landes sollte die vormodernen paternalistischen Strukturen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auf keinen Fall tangieren. Westlicher Individualismus sollte nicht in traditionelle Verhaltensmuster eindringen. Die Ausrichtung auf die Familie und auf vergleichbare gesellschaftliche Organisationen mit klarer Über- und Unterordnung musste verbindlich bleiben. Firmen, politische Parteien, die Armee, die Nation mit dem Tenno, dem Gottkaiser, an der Spitze — alles war auf die Idee der hierarchisch strukturierten Großgruppe ausgerichtet. Da sie in allen Bereichen anerkannt war — sowohl in der Armee, die überwiegend in der ländlichen Gesellschaft wurzelte, als auch in der Großindustrie —, trug sie wesentlich zum Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft bei, zumal sie mit einem Überlegenheitsgefühl der Japaner gegenüber allen anderen Völkern einherging. Psychologisch um so verheerender wirkte sich die restriktive Einwanderungspolitik der USA aus, von der Asiaten besonders hart betroffen waren. Mit seinem hohen Bevölkerungswachstum war Japan auf Emigrationsmöglichkeiten angewiesen, wie es wirtschaftlich mit seiner Exportindustrie auf funktionierende Beziehungen zu den USA angewiesen war.
 
Der Aufstieg zur wirtschaftlich führenden Macht in Ostasien führte in Japan zu Gewinnen, die äußerst ungleichmäßig verteilt waren. Nicht beteiligt an den Früchten des Aufschwungs war die Landwirtschaft, in der nach dem Ersten Weltkrieg noch die Hälfte der Erwerbstätigen beschäftigt war. Auch der Industriearbeiterschaft blieb ein angemessener Anteil am nationalen Reichtum verwehrt. Dagegen richteten sich 1918 städtische Unruhen, die aber durch geringfügige Konzessionen wie die Freigabe der Reisimporte besänftigt werden konnten. Die Arbeiterschaft war, gemessen an europäischen Maßstäben, so gut wie unorganisiert. Ende der Zwanzigerjahre gehörten von vier Millionen Industriearbeitern nur 330000 einer der meist kleinen Gewerkschaften an. Die Arbeiterpartei kam 1928 auf ganze acht Sitze im Unterhaus des japanischen Reichstags.
 
 Wirtschaftskrise und Expansion
 
Über die wirtschaftlichen Gewinne verfügten die Großkonzerne, die Zaibatsu (wörtlich übersetzt: Geldcliquen). Unter Kontrolle der in Familienhand befindlichen Konzerne standen auch die politischen Parteien, die ohne sich unterscheidende Programmaussage um die Macht stritten. Die Minseitō-Partei war eng mit dem Mitsubishi-Konzern verknüpft, die Seiyūkai-Partei mit dem Mitsui-Konzern. Die Parteienkabinette regierten seit 1918, ohne dass aber eine parlamentarische Demokratie eingeführt worden wäre. Erstmals 1928 wurde nach dem 1925 beschlossenen allgemeinen Wahlrecht, das aber auf Männer begrenzt blieb, gewählt. Die Parteienregierungen waren Ausdruck der Bedeutung der Großindustrie. Gleichzeitig blieb die Sonderstellung des Militärs erhalten. Es war der politischen Kontrolle entzogen und hatte seine soziale Basis in der steuerlich hoch belasteten, von den Gewinnen der Zaibatsu abgeschnittenen und verarmten Landbevölkerung.
 
Der ohnehin vorhandene Gegensatz zwischen dem Militär auf der einen und der Koalition aus Parteien und Großkapital auf der anderen Seite spitzte sich zu, als die Weltwirtschaftskrise konfliktverschärfend hinzutrat und ganze Wirtschaftszweige beeinträchtigte. Wegen seiner Rohstoff- und Exportabhängigkeit vom Ausland traf die Krise Japan mit immenser Wucht. Die USA als Ursprungsland der Krise fielen als Markt für die japanische Textilindustrie, die 1929 die Hälfte aller Fabrikarbeiter beschäftigte, völlig aus. Japan war daran gewöhnt, nahezu seine gesamte Rohseidenproduktion in die USA zu exportieren und aus diesen Einnahmen fast die Hälfte seiner Maschinen und Rohstoffimporte zu finanzieren. Die japanische Wirtschaft hing im wahren Sinn des Wortes an einem seidenen Faden, der in der Weltwirtschaftskrise zerriss. Die extreme Abhängigkeit Japans von seinen Außenmärkten erwies sich auch deshalb als besonders folgenreich, weil eine Konzentration auf nur zwei Märkte, die USA und China, bestand. Auch der chinesische Markt bereitete Probleme. Nach dem Sieg der nationalrevolutionären Kuo-min-tang-Partei Chiang Kai-sheks setzte China seiner wirtschaftlichen Durchdringung Widerstand entgegen. Zum Beispiel baute man in der Mandschurei eine eigene Eisenbahnlinie als Gegengewicht zur japanisch beherrschten Südmandschurischen Eisenbahn.
 
In dieser Situation extremer Anspannung rief das Londoner Flottenabkommen vom April 1930, mit dem sich die liberal-gemäßigte Minseitō-Regierung Hamaguchi Yuko noch einmal in das Washingtoner System einbinden ließ, wütende Proteste der nationalistischen Opposition und der die Interessen der Marine artikulierenden Seiyūkai-Partei hervor. Japan hatte sich verpflichtet, bestimmte Obergrenzen im Flottenbau nicht zu überschreiten. Ähnlich wie in Deutschland war daraufhin auch in Japan von nationaler Demütigung, Gefährdung der nationalen Sicherheit und Kapitulation vor den westlichen Großmächten die Rede. Hamaguchi wurde im November 1930 durch ein Attentat so schwer verletzt, dass er einige Monate später an den Folgen starb.
 
Die weitere Entwicklung der japanischen Innen- und Außenpolitik wurde von dem steigenden Gewicht der Armee geprägt. In ihr verbanden sich der Protest gegen die Korruption der Parteiführer und Großunternehmer, denen das Unverständnis für das Elend der breiten Massen zum Vorwurf gemacht wurde, mit der Bereitschaft zum militärischen Losschlagen und zur Expansion auf dem chinesischen Festland. Gewalt im Innern und Krieg nach außen entsprachen sich fast modellartig. Darüber hinaus wollten viele Offiziere die Tugenden des Kriegers dem Gewinnstreben der Kapitalistenklasse entgegenstellen. In Deutschland hatte dies seine Entsprechung in dem von der nationalistischen Rechten herausgestellten Gegensatz zwischen »Kriegern« und »Krämern«. So sprach Ernst Jünger vom »Kampf als innerem Erlebnis«. Er wollte das »Heroische« betont wissen: »Daher sollen unsere Wertungen auch heroische, auch Wertungen von Kriegern und nicht solche von Krämern sein, die die Welt mit ihrer Elle messen möchten.«
 
Ohne jede Weisung aus Tokio überrannten japanische Einheiten die chinesische Garnison in Mukden, nachdem am 18. September 1931 ein Zwischenfall in der Nähe Mukdens an der Südmandschurischen Eisenbahn inszeniert worden war. Es gelang der Regierung auch nicht, die militärische Dynamik zu bremsen, sodass schließlich die ganze Mandschurei besetzt und im Februar 1932 der Marionettenstaat Mandschukuo proklamiert wurde. Da die Marine, die eher eine Expansion nach Süden bevorzugte, nicht abseits stehen wollte, eröffnete sie — ebenfalls eigenmächtig — im Januar 1932 eine Offensive gegen Schanghai, in deren Verlauf es auch zu Bombenangriffen auf die Zivilbevölkerung kam.
 
 Militarismus und Ende der Parteienregierungen
 
Die Vorgänge zeigen, wie Anfang der Dreißigerjahre in Japan weitgehende Einigkeit über die Bereitschaft zur Expansion bestand. Unterschiede gab es allenfalls in der Schwerpunktsetzung. Sollte man im Norden mit der Konsequenz eines Krieges gegen die Sowjetunion vorgehen oder im rohstoffreichen Süden vorrücken, wo der Konflikt mit den Westmächten drohte, die Vertragspartner im Washingtoner Abkommen gewesen waren? Das eigenmächtige Vorgehen des Militärs lässt darüber hinaus Japans Wende zum Militarismus erkennen. Die Operation der Armee in der Mandschurei wirkte sich auch auf das politische System und die Wirtschaft des Landes aus. Die Wahlen im Februar 1932 brachten der Minseitō-Partei eine klare Niederlage bei: Sie erhielt nur 147 Mandate, die Seiyūkai-Partei kam auf 304. Gleichzeitig wurde das System der Parteienregierungen insgesamt durch eine Serie von Attentaten seitens radikaler Armeekreise herausgefordert. Ministerpräsident Inukai Tsuyoshi von der Seiyūkai-Partei wurde im Mai 1932 in seinen Amtsräumen ermordet. Auch auf andere Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft wurden Attentate verübt. Die neue Regierung war eine Expertenregierung unter der Kontrolle von Armee und Marine. Damit ging die Ära der Parteienregierungen zu Ende, die die japanische Politik seit 1918 geprägt hatten. Radikale antikapitalistische Gruppen in der Armee waren aber mit der faktischen Entmachtung der weiterhin existierenden Parteien noch nicht zufrieden. Nachdem es in den Wahlen Anfang 1936 abermals zu einem Wechsel der Mehrheitsverhältnisse gekommen war, jetzt zugunsten der Minseitō-Partei, die im Wahlkampf mit der Parole »Parlamentarische Regierung oder Faschismus?« aufgetreten war, unternahmen radikale Offiziere einen Militärputsch, der allerdings fehlschlug. Die expansionistisch und sozialrevolutionär ausgerichteten radikalen Militärs scheiterten, was die Stellung des Militärs in der Politik insgesamt aber eher festigte. Auch die Großindustrie orientierte sich mit einer stärkeren Gewichtung der Schwerindustrie deutlich an den Plänen der Armee, die starke Ähnlichkeit mit nationalsozialistischen Autarkiebestrebungen aufwiesen. Damit aber war mittelfristig ein Ausgleich mit anderen im Fernen Osten präsenten Großmächten unwahrscheinlich geworden, es sei denn, Japan hätte freie Hand erhalten, zum Hegemon in der Region und zur Führungsmacht in einem geschlossenen ost- und südostasiatischen Wirtschaftsraum aufzusteigen. Nicht zuletzt die USA sollten dieser Option im Weg stehen.
 
Prof. Dr. Gottfried Niedhart, Mannheim
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Aggression in Fernost: Japanischer Überfall auf die Mandschurei
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Japan: Der Weg zur Großmacht

Universal-Lexikon. 2012.

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